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Lena Klassen – Wild

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Wäre es nicht toll, wenn man immer nur noch glücklich wäre? Wenn man keinen Liebeskummer hätte, wenn man geliebte Menschen nicht vermissen würde und nie Selbstzweifel hätte? Man würde sich nie wieder über rote Ampeln oder eine viel zu lange Schlange an der Supermarktkasse ärgern und man wäre über Niederlagen nicht enttäuscht. Eigentlich eine wunderbare Vorstellung – allerdings nur oberflächlich. Denkt man länger darüber nach, wird man bald zu der Erkenntnis gelangen, dass wirkliches Glück nur empfinden kann, wer auch Leid kennt. Denn woran sollte man die Skala seiner Gefühle sonst messen?

Eine Welt voller glücklicher Menschen, das ist auch das Universum von Lena Klassens Jugendbuch „Wild“. Jede Woche bekommen die Bewohner von Neustadt ihre persönlich auf sie zugeschnittene Glücksinjektion, denn Leidenschaft jeglicher Art gilt als Gefahr für die Gesellschaft. Deshalb findet Pis Klasse auch die Schlussszene von „Romeo und Julia“ zum Brüllen komisch: Niemand kann sich vorstellen, sich nach einem anderen Menschen so zu verzehren, dass man ihm in den Tod folgen würde. Doch die Kehrseite der Medaille präsentiert Lena Klassen nur ein paar Seiten später. Wenn nämlich alle in einem Zustand zufriedener Gleichgültigkeit vor sich hin leben, dann ist es auch egal, wenn ein Bauarbeiter vom Gerüst in den Tod stürzt. Was macht das schon? Die Chemie in den Adern der Schüler sorgt dafür, dass sie trotzdem nicht ihre gute Laune verlieren. Eine skurrile Situation …

Doch bald darauf verliert die wöchentliche Spritze bei einigen Schülern ihre Wirkung. Pi kann plötzlich klar denken. Sie läuft nicht mehr ständig gegen irgendwelche Türen und sie ist völlig geplättet von all den wilden Gefühlen, die plötzlich auf sie einstürmen. Auch ihr heimlicher Schwarm Lucky ist betroffen und zusammen beschließen sie, niemandem von ihrem überwältigenden Gefühlstaumel zu erzählen. Denn wenn man einmal aus dem Glücksstrom fällt, wird man aus Neustadt in die Wildnis verdammt – und wer weiß, was dort auf sie warten würde?

Letztendlich wird Pi aber doch in der Wildnis landen, bei einer Gruppe Menschen, die als Ausgestoßene im Wald leben und von den Neustädter Soldaten gejagt werden. Bald wird klar, dass Neustadt viele dunkle Geheimnisse birgt, die nur nie aufgedeckt werden, weil die Bewohner mit Hilfe von Drogen mundtot gemacht werden. Doch wenn Pi gehofft hatte, in der Wildnis frei zu sein, wird sie bald eines besseren belehrt, denn auch hier gelten strenge Regeln, die unbedingt zu befolgen sind, sichern sie doch das Überleben der ganzen Gruppe.

Lena Klassens „Wild“ ist ein faszinierendes Gedankenspiel, das viel Anlass zum Nachdenken bietet. Auf der einen Seite will sie dem Leser verdeutlichen, dass eine Welt ohne negative Gefühle, ohne Leid, Trauer und Enttäuschung, nicht zu denken ist. Denn auch wenn im Roman davon die Rede ist, dass die Charaktere eine „Glücksinjektion“ bekommen und im „Glücksstrom“ schwimmen, so wird doch schnell deutlich, dass sie eben nicht glücklich sind. Sie sind schlicht gleichgültig. Zwar scheinen Pis Eltern ihre Tochter zu lieben, doch als man ihnen erzählt, sie sei tot, nehmen sie das völlig gelassen hin. Die Glücksdroge eliminiert also nicht etwa die wilden Gefühle. Sie elimiert alle Gefühle.

Und das ist genau, was die Regierung von Neustadt will. Denn natürlich geht es nicht wirklich darum, mit Hilfe von Medikamenten einen besseren Menschen zu schaffen. Vielmehr geht es darum, dass Volk still und gefügig zu halten. In unserer Gesellschaft fällt diese Rolle den Medien und dem Konsum zu. Doch die Erfolgsquote ist durchwachsen. In Neustadt dagegen hat man mit der Glücksdroge eine todsichere Methode gefunden, die Macht einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu sichern. Und alle, die sich dieser Diktatur des Glücks verweigern, werden gnadenlos aussortiert.

Diese Gesellschaftskritik schwingt immer nur leise mit, tritt aber nie in den Vordergrund. Denn Lena Klassen vergisst nie, dass sie ein Jugendbuch schreiben wollte. Zentral ist also die Spannung und natürlich die sich entspinnende Liebesgeschichte zwischen Pi und Lucky, die durch viele Höhen und Tiefen gehen muss. Hier läuft Klassen zu Hochform auf, denn sie ist eine Meisterin darin, Worte für menschliche Gefühle zu finden. Bei einem Sujet, das darauf fußt, dass die Protagonisten ihr Innenleben quasi ganz neu entdecken müssen, führt das zwangsläufig zu geradezu schmerzhaft schönen Passagen. Und wer noch mehr will als diese fesselnde, rührende Prosa, der kann gern darüber nachdenken, was Lena Klassens Universum alles impliziert, aber selten ausspricht.

„Wild“ ist eine Dystopie, eine Liebesgeschichte, eine Gesellschaftskritik und ein gut lesbarer Roman. Es ist spannend und unterhaltsam und anrührend, aber nie kitschig. Etwas, das selten geworden ist im Jugendbuchgenre.

Taschenbuch: 382 Seiten
ISBN 13:978-3-931989-79-8
drachenmond.de
lenaklassen.de

Der Autor vergibt: ***** (5/5) Ihr vergebt: Note: There is a rating embedded within this post, please visit this post to rate it.


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